Der Hase und der Igel

An einem Sonntagmorgen, gerade als die Sonne goldig am Himmel aufgegangen war und die Lerchen in der Luft sangen, war auch der Igel vergnügt und munter und stand vor seiner Tür. Mit beiden Armen übereinandergeschlagen guckte er in den Morgenwind hinaus und trällerte ein Liedchen vor sich hin. Plötzlich fiel im ein, er könne doch mal ein bisschen im Feld spazieren gehen und sich umsehen, wie seine Steckrüben wohl stünden. Also machte der Igel die Haustüre hinter sich zu und schlug den Weg zu den Feldern ein.

Noch nicht weit vom Hause entfernt, begegnete ihm auf einmal der Hase, welcher ähnliches Vorhaben hatte. Als der Igel den Hasen sah, bot er ihm einen freundlichen Guten Morgen, doch der Hase vornehm wie er war erwiderte den Gruß nicht sondern sagte nur: “Wie kommt es denn, dass du schon in so früher Morgenstunde im Felde herumläufst?” “Ich gehe spazieren”, sagte der Igel. “Spazieren?” lachte der Hase, “Ich habe den Anschein, du könntest deine Beine auch wohl zu besseren Dingen gebrauchen.” Diese Antwort verärgerte den Igel über alle Maße. “Du bildest dir wohl ein, dass du mit deinen Beinen mehr ausrichten kannst?” sagte der Igel. “Das denke ich”, sagte der Hase. “Nun es käme auf einen Versuch an”, meinte der Igel.

“Ich wette, wenn wir wettlaufen, so laufe ich dir davon.” “Das ist zum Lachen, du mit deinen schiefen Beinen!” sagte der Hase, “aber meinetwegen, wenn du so übergroße Lust hast. Um was wetten wir?” “Einen goldenen Taler und eine Flasche Schnaps”, sagte der Igel. “Angenommen”, sprach der Hase, “schlag ein und dann kann es gleich losgehen.” “Nein so große Eile hat es nicht”, meinte der Igel, “ich bin noch ganz nüchtern, erst will ich nach Hause gehen und ein bisschen frühstücken. In einer halben Stunde bin ich auf dem Platze.” Der Hase willigte ein und daraufhin ging der Igel. Unterwegs dachte sich der Igel: “Der Hase verlässt sich auf seine langen Beine, aber ich werde ihn schon kriegen. Er denkt ein vornehmer Herr zu sein, ist aber doch ein dummer Kerl und dafür wird der bezahlen.”

Als der Igel zu Hause ankam, sagte er zu seiner Frau: “Zieh dich eilig an, du musst mit mir ins Feld hinaus!” “Was gibt es denn?” fragte seine Frau. “Ich habe mit dem Hasen um einen goldenen Taler und eine Flasche Schnaps gewettet. Ich will mit ihm um die Wette laufen und du sollst mit dabei sein.” “Oh mein Gott!” schrie dem Igel seine Frau. “Hast du den Verstand verloren. Wie kannst du mit dem Hasen um die Wette laufen wollen?” “Sei leise, das ist meine Sache und misch dich nicht in Männergeschäfte ein”, sagte der Igel. “Marsch, zieh dich an und dann komm mit!”

Daraufhin folgte die Igel-Frau ihrem Mann, ob sie nun mochte oder nicht. Als sie beide nun miteinander unterwegs waren, sprach der Igel zu seiner Frau: “Nun pass, auf was ich dir sagen werde! Dort auf dem langen Acker wollen wir unseren Wettlauf machen. Der Hase läuft nämlich in der eine Furche und ich in der anderen und von oben fangen wir an zu laufen. Du hast nun weiter nichts zu tun, als dich hier unten in die Furche zu setzen und wenn der Hase auf der anderen Seite ankommt, so rufst du ihm entgegen: “Ich bin schon da!” Als sie beim Acker angelangt waren, wies der Igel seiner Frau ihren Platz zu und ging den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. “Kann es losgehen?” fragte der Hase. “Jawohl”, erwiderte der Igel.

Dann stellte sich jeder in seine Furche und der Hase zählte: “Eins, zwei, drei!” und los lief der Hase wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Igel aber lief ungefähr nur drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche nieder und blieb ruhig sitzen. Als der Hase endlich im vollen Laufe unten ankam, rief die Igel-Frau nur zu: “Ich bin schon da!” Der Hase stutzte und wunderte nicht wenig, als ihm die Igel-Dame zurief, die für den Hasen vom Igel-Mann nicht zu unterscheiden war. “Das geht nicht mit rechten Dingen zu, es wird noch einmal gelaufen”, rief der Hase und fort rannte er wieder wie ein Sturmwind, sodass ihm die Ohren am Kopf flogen. Dem Igel seine Frau aber blieb ruhig auf ihrem Platz sitzen.

Als der Hase wieder oben ankam, rief ihm der Igel entgegen: “Ich bin schon da!” Der Hase aber, ganz außer sich vor Eifer, schrie: “Es wird noch mal gelaufen!” “Mir recht, meinetwegen so oft, wie du Lust hast”, antwortete der Igel. So lief der Hase dreiundsiebzigmal und der Igel hielt es immer wieder mit ihm aus. Jedes Mal, wenn der Hase unten oder oben ankam, sagte der Igel oder seine Frau: “Ich bin schon da!” Beim vierundsiebzigsten Male aber schaffte der Hase nicht mehr das Ende. Mitten auf dem Acker stürzte er zu Boden, während im Blut aus dem Hals floss und er tot auf dem Platze liegen blieb. Der Igel aber nahm seinen gewonnenen Taler und die Flasche Branntwein, rief seine Frau aus der Furche und beide gingen vergnügt nach Hause.

Quelle: http://maerchen.woxikon.de/27/der-hase-und-der-igel